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Buchbesprechung: «Kaddisch zum Gedenken»

Buchtipp Winter 2023/2024: Entdecken Sie, wie die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden sind. Und was wir aus Berichten über die Schoa für unsere Gesellschaft lernen können.

Buchbesprechung
mit Eve Stockhammer, Herausgeberin und Illustratorin von «Geigen im Schnee» und dem Folgebuch «Kaddisch zum Gedenken».
Kaddisch
ist eines der wichtigsten Gebete im Judentum. Es wird u.a. zum Totengedenken und am Grabe gesprochen.

Buchbesprechung mit Eve Stockhammer

In einem Gespräch im Dezember mit Frau Eve Stockhammer haben wir das von ihr veröffentlichte Buch «Kaddisch zum Gedenken» besprochen. INFOREL bat sie um einen Überblick und ihre Einschätzung, inwiefern ihr Sammelband gesellschaftliche Gedankenanstösse geben kann und wie wir es in interreligiösen und zwischenmenschlichen Kontexten nutzen können. Hierzu kam sie zu folgenden Erkenntnissen:

INFOREL: Welchen Beitrag leistet «Kaddisch zum Gedenken» zur aktuellen Erinnerungskultur und zum Verständnis des Holocausts bzw. der Schoa?

Eve Stockhammer:
Der Sammelband „Kaddisch zum Gedenken“ erinnert mit persönlichen Geschichten von Zeitzeugen und Nachfahren an den Holocaust und an die Auswirkungen beider bis ins Heute und über die Landesgrenzen bis in die Schweiz. Die Berichte von der jüngeren Generation zeigen aus anderer Perspektive auf, dass diese unfassbaren Traumata sowie das häufige Schweigen darüber auch Auswirkungen auf die innerfamiliären Beziehungen haben. Weiter wird beim Lesen einzelner Texte klar, dass auch die Schweiz durch das Verwehren von Fluchtmöglichkeiten mit Schliessen der Schweizer Grenzen, just in der schwierigsten Zeit, mehr oder weniger eine Mitschuld am Holocaust trägt.

HaTikwa
© Eve Stockhammer

Wie werden die unterschiedlichen Perspektiven von Zeitzeugen und Personen der Nachgenerationen im Buch präsentiert und miteinander verknüpft?

Im Sammelband kommen 9 Holocaustüberlebende sowie 16 Personen der Nachgeneration zu Wort, die über ihre Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern erzählen. Die Autorinnen und Autoren kennen sich untereinander nicht und machen erst im Buch „Bekanntschaft“ miteinander. Durch Abwechslung der Erzählenden aus verschiedenen Ländern, die von ihren Lebensumständen berichten, nehmen die Lesenden deren unterschiedliche Perspektiven an und bekommen ein Gefühl für die sich ergebende Komplexität der Thematik. Verknüpfungen können vereinzelt stattfinden, die Berichte im Sammelband haben aber nicht den Anspruch einer überblickenden Darstellung, sie bleiben individuelle Fragmente, kleine vereinzelte Puzzlesteine eines unglaublichen Menschheitsverbrechens.

Jom HaSikaron
© Eve Stockhammer

Gibt es bestimmte Themen oder Fragen, die sich durch die Berichte mehrerer Generationen ziehen – z.B. das Schweigen, das Sie in Ihrem Kapitel erwähnen?

In vielen Familien von Holocaustüberlebenden kann das Unsagbare nicht in Worte und Sätze gefasst werden. Entweder wird geschwiegen und tabuisiert, was die Kinder spüren und dann auch nicht mehr zu fragen wagen. Die Geschichten können bei den Traumatisierten aber auch unvermittelt und kontextfrei hervorbrechen, sodass das Adressat – die eigenen Kinder oder Freunde – vom schrecklichen Inhalt überfordert sind. Viele Kinder erschrecken dann, haben genug und möchten nicht zuhören müssen. Manchmal halten sich sogar die Ohren zu oder beginnen von etwas anderem laut zu sprechen. Sie ahnen und spüren wohl das Grauen hinter den Worten von Vater oder Mutter und müssen sich durch Distanz schützen. In einzelnen Familien gelingt aber auch das Gespräch zwischen den Generationen, so kann nicht verallgemeinert werden.

Geiger Kaddisch
© Eve Stockhammer

Wie kann «Kaddisch zum Gedenken» als Bildungsmaterial verwendet werden, um jüngere Generationen über die Schoa aufzuklären?

Sowohl der erste Band «Geigen im Schnee», wie das Folgebuch «Kaddisch zum Gedenken» beinhalten, neben ansprechendem Bild und Fotomaterial, variationsreiche kurze und prägnante Geschichten von Betroffenen und Angehörigen. Die Texte, die aus verschiedenen Perspektiven (erste, zweite oder dritte Generation) geschrieben wurden, bilden eine Brücke ins Heute, was den Zugang der jüngeren Generation zu historischem „Material“ erleichtert. Es handelt sich um relativ kurze Darstellungen von Einzelschicksalen, die aber immer auch im historischen Kontext erzählt werden und damit die Türen für eine vertiefte Auseinandersetzung öffnen. Es geht um Opfer der Vernichtungslager, um Menschen, die in Konzentrationslager deportiert oder Ghettos gesteckt wurden, um Kinder, die in Verstecken überlebt haben und vereinzelt auch von mutigen Mitmenschen gerettet wurden. Die Fluchtgeschichten beschränken sich nicht auf Europa, sie führen in die USA bis nach Lateinamerika und nach Zentralasien, was das Ausmass der Auswirkungen in viele Teile der Welt verdeutlicht.

Dass die Texte von gemalten Porträts, Gedenkbilder, Fotos und auch Zeichnungen begleitet sind, vereinfacht vielen den Zugang zum Geschriebenen. Gerade jungen Menschen gelingt ein Einstieg in ein Thema häufig besser über Bilder als über Texte. Die Kombination der beiden Sparten in diesem Sammelband könnte daher für eine Unterrichtstunde Hand bieten.

Reichssilber versandet
© Eve Stockhammer

Welche Diskussionen könnte das Buch in Bezug auf Themen wie Toleranz, Erinnerung und interkulturellen wie interreligiösen Dialog anregen?

Die Erzählungen in beiden Büchern von Menschen, die mit ganz verschiedenem religiösem Hintergrund aufgewachsen sind (von streng religiös bis komplett liberal sowie auch Konvertiten), stellen die Klischeevorstellung eines „typischen Juden“ infrage. Dies wiederum könnte dazu anregen, auch über Vorurteile anderen Religionen gegenüber nachzudenken. Das Schlagen einer Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die mit den Erzählungen von Menschen erreicht werden sollte, könnte den interkulturellen und interreligiösen Dialog stimulieren. So gab es in allen Ländern Europas neben den Mitläufern auch mutige Menschen, die Juden versteckt und gerettet haben. Dabei spielten nicht selten religiöse und auch kulturelle Motive eine wichtige Rolle: Viele jüdische Kinder überlebten in Klöster und viele Gerettete verdanken ihr Überleben Geistlichen und mutigen Christen. Auch zeigten sich gewisse Kulturen und Länder anfälliger für Antisemitismus als andere. Eine kritische Analyse dazu könnte präventiv helfen. In Albanien beispielsweise fanden viele jüdische Menschen während dem Zweiten Weltkrieg Zuflucht und auch in Dänemark wurden, trotz Besetzung durch die Deutschen, die meisten Juden gerettet. Warum geschah dies eigentlich nicht auch in anderen europäischen Ländern? Vertiefte Auseinandersetzungen zu den Themen kulturelle Werte, Toleranz und Antisemitismus erscheinen gerade heute wieder von grosser Relevanz.

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Der Sammelband «Kaddisch zum Gedenken» ist bestellbar in allen Buchhandlungen oder direkt bei der Autorin unter eve.stockhammer@gmail.com.

Weitere Informationen zu Eve Stockhammer und ihrer Arbeit findet sich hier: https://www.eveandart.com/

Sämtliche Bilder stammen aus dem Sammelband und wurden uns von der Autorin/Künstlerin dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

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